
»Ich war immer allein.«
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- 15/02/2018
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- By : erzählmal.
Abdulrahman Yahya Hadi Alsalam ist 23 Jahre alt und aus dem Irak nach Deutschland geflüchtet. Seit April 2016 ist Tübingen sein neues Zuhause. Er weiß noch nicht, ob er bleiben darf.
erzählmal.: Was war dein Beruf im Irak?
Abdu: Ich war am Institut für Touristik und Hotelmanagement. Das Studium dauert drei Jahre, ein Jahr Praxis und zwei Jahre Theorie. Dabei habe ich in mehreren Hotels gearbeitet. Meine Aufgaben waren ganz verschieden: Küche, Raumservice, Rezeption und auch Verwaltung. In Deutschland gilt das allerdings nur als eine Art Ausbildung, nicht als Studium. Ich glaube, hier heißt das Hotelfachmann. Ich habe alle meine Zeugnisse im Irak vom Außenministerium stempeln lassen, da war alles drauf. Aber hier in Stuttgart wird das nicht akzeptiert. Ich musste sogar zwei- oder dreihundert Euro zahlen, dafür wurde mir als Abschluss Realschulreife anerkannt. Das war sehr hart für mich. Ich dachte, es wäre zumindest wie ein Abitur.
»Meine Familie brauchte mich damals, ich konnte nicht so viel lernen.«
erzählmal.: Und jetzt bist du Tübinger Hotelfachmann?
Abdu: Ich habe mich umorientiert und mache jetzt eine Ausbildung zum pharmazeutisch-kaufmännischen Angestellten. Zweimal pro Woche habe ich Schule, den Rest der Zeit arbeite ich in einer Apotheke in Tübingen. Arzneimittel darf ich nicht verkaufen, ich bin ja kein Pharmazeut und kann nicht alle Fragen beantworten. Aber zu Babyprodukten und Kosmetik kann ich Informationen geben und die darf ich auch verkaufen.
erzählmal.: Warum bist du nicht im Tourismus geblieben?
Abdu: In Hotels und Restaurants ist immer Hektik, die Menschen sind oft unfreundlich. Während andere Leute abends etwas unternehmen, muss ich arbeiten. Pharmazie ist mein Traum, das wollte ich schon, als ich noch ein Kind war. In Deutschland habe ich mich dann entschieden: Jetzt bin ich hier, jetzt gehe ich in die Apotheke.
erzählmal.: Konntest du dir diesen Traum im Irak nicht erfüllen?
Abdu: Da war das ein bisschen schwierig mit meiner Familie. Meine Familie brauchte mich damals, ich konnte nicht so viel lernen. Jetzt kann ich es. In der Zukunft würde ich gerne Pharmazie studieren.
»Leider hatte ich lange keine Möglichkeit, Deutschunterricht zu besuchen. Das war sehr schwierig für mich, weil ich dadurch keinen Kontakt zu anderen Leuten hatte.«
erzählmal.: Dein erstes Ziel ist nun die Ausbildung. Die geht drei Jahre?
Abdu: Genau, aber ich verkürze nächstes Jahr, weil meine Noten gut sind. Gleichzeitig mache ich mittwochs und samstags Fachhochschulreife. Ich habe gehört, dass man mit Ausbildung und Fachhochschulreife auch studieren kann, aber da muss ich noch viel nachfragen und herausfinden.
erzählmal.: Wo lebst du gerade?
Abdu: Ich wohne bei meiner Tante in Ammerbuch-Pfäffingen. Sie ist im Jahr 2015 allein mit ihren drei Kindern hergekommen. Ich bin seit dem 22. Juli 2015 in Deutschland – da bin ich in Donaueschingen angekommen. Meine Geschichte ist sehr kompliziert, ich bin hin- und hergereist. Nach Donaueschingen war ich in Karlsruhe, in Aichtal, danach in Esslingen und erst dann bin ich nach Tübingen gekommen. Ich konnte nur wegen der Ausbildung endlich zu meiner Tante ziehen. Esslingen war sehr heftig: sehr viele Leute, kein Platz.
erzählmal.: Wie war es, in Deutschland anzukommen?
Abdu: Die deutsche Gesellschaft war für mich anders, als ich es kenne: Die Kultur natürlich, Freundschaft und die Beziehung zur Familie. Generell waren die Menschen hier immer sehr freundlich zu mir. Ich erinnere mich nicht an schlechten Umgang, das finde ich klasse. Leider hatte ich lange keine Möglichkeit, Deutschunterricht zu besuchen. Das war sehr schwierig für mich, weil ich dadurch keinen Kontakt zu anderen Leuten hatte. Ich war immer allein und habe versucht, auch ohne Unterricht Deutsch zu lernen. Erst im März 2017 konnte ich an einem Kurs teilnehmen. Meine Aussprache ist noch nicht so gut, aber ich übe viel.
»Es ist so schwer für mich, ihnen in die Augen zu schauen.«
erzählmal.: Musstest du dich in Deutschland verändern?
Abdu: Schon, ja. Viel anpassen! Manche verstehen mich falsch, deswegen muss ich gut aufpassen. Ich überlege manchmal drei- oder viermal, bevor ich etwas sage. Als ich im Irak war, habe ich sehr viel mit Gestik und Mimik geredet. Hier habe ich gemerkt, dass man das nicht so stark benutzt. Das war schwer, denn ich konnte nicht ohne Gestik und Mimik reden – das ist bei mir einfach immer dabei. Aber manchmal ist es sehr wichtig, dass man nicht gestikuliert.
erzählmal.: Fühlt es sich für dich dann so an, als wären wir Deutschen unfreundlich?
Abdu: Nein, das nicht, aber manche Situationen sind schon sehr komisch. Augenkontakt ist hier auch ganz anders. Wenn ich zum Beispiel mit meinem Vater rede, darf ich ihm nicht so tief in die Augen sehen. Das hat mit Respekt zu tun. Ich blicke immer ein bisschen tiefer, weil es unhöflich wäre, ihn direkt anzusehen. Unter Freunden geht das natürlich, aber nicht vor Lehrern oder anderen Autoritäten.
»Klar, ich kann nicht so wie ein Deutscher sein. Ich bin anders. Ich habe eine andere Kultur, eine andere Haut und andere Haare. All das gehört zu mir, das kann ich nicht ändern. Das ist schwierig.«
erzählmal.: Musstest du dich dann zwingen, den Leuten hier in die Augen zu gucken?
Abdu: Ja.
erzählmal.: War das schwer?
Abdu: Oh ja! Bis heute! Manchen Leuten konnte ich einfach nicht in die Augen schauen, aber gleichzeitig habe ich Angst, dass sie mich falsch verstehen. Sie könnten denken, dass ich unhöflich bin oder dass ich kein Selbstbewusstsein habe. Aber so bin ich ja nicht, das wäre nicht ich. Es ist so schwer für mich, ihnen in die Augen zu schauen. Manchmal sage ich mir, das ist meine Identität, die kann ich nicht ändern. Dann denke ich wieder: Nein, ich muss mich verändern. Ich lebe hier und muss mich anpassen. Klar, ich kann nicht so wie ein Deutscher sein. Ich bin anders. Ich habe eine andere Kultur, eine andere Haut und andere Haare. All das gehört zu mir, das kann ich nicht ändern. Das ist schwierig.
erzählmal.: Was machst du gerne in deiner Freizeit?
Abdu: Ich schaue sehr gerne nach Sternzeichen, darüber lese ich Bücher. Das ist mein Lieblingshobby. Sonst spiele ich gerne Fußball und ich singe den ganzen Tag über: In der Dusche, beim Kochen… Aber Singen ist nicht mein Hobby, das ist ein Teil von mir.
erzählmal.: Glaubst du an Horoskope?
Abdu: Nein, aber es interessiert mich. Ich habe mein Sternzeichen auch als kleines Tattoo auf dem Unterarm. Bei uns gibt es eine besondere Kunstschrift, die besteht nur aus Zeichen und ist schwierig zu lesen. Das kann ich auch „n bissle“.
erzählmal.: Du sprichst ja schwäbisch!
Abdu: Nur n bissle!
»Grenzenlos bedeutet für mich, dass ich die Grenzen und Hürden in meinem Kopf überwinde.«
erzählmal.: Und du bist Musical-Schauspieler.
Abdu: Oh ja, das Musical „Grenzenlos“ von der Katholischen Hochschulgemeinde Tübingen. Wir sind eine internationale Gruppe. Es geht um Macht und wie man sie nutzt, wenn man sie hat. Um Liebe geht es auch. Grenzenlos bedeutet für mich, dass ich die Grenzen und Hürden in meinem Kopf überwinde. Das Musical war … mir fehlen die Worte, das war einfach grenzenlos. Ich habe so, so viel entdeckt! Ich habe viele Menschen kennengelernt. Das war und ist sehr schön.
erzählmal.: Ihr habt im April nochmal einen Auftritt, oder?
Abdu: Ja, das wird ein bisschen anders, aber ich verrate nichts. Wir spielen am 30. April und am 2. Mai 2018 im Landestheater Tübingen.
erzählmal.: Hast du viele Freunde gefunden durch das Musical?
Abdu: Gute Frage! Ja, sehr gute Freunde habe ich gefunden. Sie werden mir auch immer sehr wichtig sein. Eigentlich habe ich nur Freunde aus dem Musical, deswegen war es vorher auch so schwer für mich. Im Irak hatte ich sehr, sehr viele Freunde. Wir sind zu zweit nach Deutschland gekommen: mein bester Freund und ich. Aber er durfte nicht hier leben und wurde abgeschoben. Das war für mich sehr hart.
»Ich wünsche mir, dass sie herkommen können, aber es geht nicht.«
erzählmal.: Lernst du in der Schule Leute kennen?
Abdu: Das ist schwierig, weil da fast nur Mädels sind, die deutlich jünger sind als ich. Und ich bin dort ja auch nicht so oft. Ich bin ein offener Mensch, ich liebe es, viele Freunde zu haben und neue Leute kennenzulernen. Aber ich habe das Gefühl, Vertrauen ist in Deutschland total schwierig. Deswegen habe ich wenige Freunde. Im Irak war das einfacher.
erzählmal.: Wie ist Tübingen für dich?
Abdu: Tübingen ist meine Lieblingsstadt, einfach Hammer. Jetzt kenne ich Tübingen auch besser als letztes Jahr, jetzt ist es „oifach“.
erzählmal.: Was unternimmst du gerne?
Abdu: Samstags gehe ich manchmal ein Bier trinken im Bierkeller. Aber nur am Wochenende. Ich mache sehr viel sehr gerne, aber zurzeit bin ich sehr beschäftigt. Zuhause ist es schwierig mit den Kindern von meiner Tante. Mein Cousin hat eine Behinderung und ich muss fast immer auf ihn aufpassen, wenn ich nicht gerade arbeite oder in der Schule bin. Er ist zehn Jahre alt. Deswegen habe ich leider wenig Zeit für mich. Aber ich bin natürlich auch gerne mit den Kindern zusammen. Ich habe noch einen zweiten Cousin und eine Cousine.
erzählmal.: Ist deine restliche Familie noch im Irak?
Abdu: Mein Vater ist noch in Bagdad und meine Schwester auch. Sie ist 28 Jahre alt, verheiratet und hat eine kleine Tochter. Meine Mutter ist in der Türkei. Ich wünsche mir, dass sie herkommen können, aber es geht nicht. Dann habe ich noch einen Bruder. Er ist in Dortmund. Wir schreiben auf WhatsApp. Mein Bruder möchte Zahnarzt werden, er hat Abitur. Aber gerade muss er erstmal Deutsch lernen. Er ist intelligent, aber er hat Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache. Mir persönlich gefällt sie. Jede Sprache ist schwierig – aber Deutsch finde ich schön. Manchmal klingt es krass, das finde ich cool!
»Ich habe eine Anhörung vor Gericht, damit ich meine Geschichte nochmal erzählen kann.«
erzählmal.: Wer hat dich eigentlich mit der Ausbildung, den Deutschkursen und so weiter unterstützt?
Abdu: Niemand. Ich war immer allein. Meine Tante hat in Ammerbuch viele Freunde, denen ich Fragen stellen konnte, zum Beispiel wegen der Behörden. Aber Sprache und Ausbildung, das habe ich alles allein gemacht.
Ich weiß noch nicht, ob ich in Deutschland bleiben kann. Ich habe jetzt einen Rechtsanwalt hier in Tübingen und wir werden uns vermutlich im Januar treffen und darüber reden. Meine Akten vom BAMF sind schon da. Ich habe eine Anhörung vor Gericht, damit ich meine Geschichte nochmal erzählen kann. Beim Erstinterview in Deutschland war eine Dolmetscherin dabei, weil ich ja noch kein Deutsch konnte. Wenn ich das jetzt lese, dann denke ich: Nein, das habe ich gar nicht gemeint! Die Geschichte war stark verkürzt. Jetzt will ich sie noch einmal selbst erzählen, auf Deutsch. Das ist besser. Ich bereite mich vorher vor, weil ich langsam reden muss, damit man mich verstehen kann. Ich weiß aber noch nicht, wann der Termin ist – irgendwann im Jahr 2018, glaube ich. Hoffentlich! So lange gehe ich zur Schule und zur Arbeit.
Das Interview fand am 12. Dezember 2017 statt.