
»Von Null auf Heroin – so lässt sich die Geschichte vieler dieser Kinder betiteln.«
- 0 COMMENT
- 16/03/2017
- 1992 Views
- By : erzählmal.
Frieder Hoeck, Jahrgang 1941, verbrachte einen Großteil seines Lebens in der Kinder- und Jugendarbeit mit Aussiedlern aus Osteuropa. Er wehrte sich gegen altmodische pädagogische Modelle, gab den Kindern Freiraum und legte sich dabei auch mit den Behörden an. Geboren in Pforzheim, zog er für seine Ausbildung durch die unterschiedlichsten Ecken Deutschlands, verbrachte den Großteil seines Arbeitslebens in Bietigheim-Bissingen und genießt nun den Ruhestand in Tübingen.
erzählmal.: Ihr Interesse an der pädagogischen Arbeit mit Jugendlichen – kam das von Haus aus?
Frieder Hoeck: So kann man das nicht sagen. Ich wuchs in einem Pfarrhaus nahe Pforzheim auf. Mein Vater hatte in Tübingen Theologie studiert. Von Haus aus war mir also die Theologie mitgegeben. Nach dem Abitur ging ich nach Bethel bei Bielefeld um dort Hebräisch zu lernen und das Christentum in der Praxis zu erleben. In Marburg begann ich daraufhin mein Theologiestudium. So sehr das Christentum bis dahin in meinem Lebenslauf verankert gewesen war – ein Feuer der Leidenschaft brannte in mir nie.
Stattdessen begann ich, mich mehr und mehr mit der Philosophie auseinanderzusetzen. Bücher von Freud und Nietzsche verschlang ich geradezu. Also brach ich meine Zelte in Marburg ab und wechselte nach Tübingen. Hier konnte ich mein Interesse an den großen Philosophen, an der Pädagogik und vor allem der Anthropologie besser ausleben.
»Zu jener Zeit waren wir kleine Pioniere und wir wussten, dass wir Recht hatten.«
erzählmal.: Wie sah dann der erste Kontakt zur Arbeit mit Jugendlichen und Kindern aus?
Hoeck: In den 70er-Jahren bot mir eine Bekannte eine Stelle als Betreuer in einer Freizeit für Kinder und Jugendliche an. Das waren hauptsächlich Aussiedlerkinder aus dem Osten, aus Rumänien, Polen und Russland. Für meinen weiteren Lebenslauf war das wohl die wichtigste Schlüsselszene. Ich arbeitete von da an neben dem Studium immer wieder als Freiwilliger in der Jugendarbeit. Mir war schnell klar, dass ich bei all meiner Liebe zur Theorie und zu den Büchern auch praktisch arbeiten wollte. »Lies zwei Bücher, schreib das Dritte!« – das wurde zu meinem Motto.
erzählmal.: Wie und weshalb machten Sie den Sprung vom Ehrenamt in den Hauptberuf?
Hoeck: Es dauerte eine Weile, bis ich wirklich vollberuflich in die Jugendarbeit einstieg. Das passierte erst in den frühen 80er-Jahren in Bietigheim-Bissingen. Dort wurde ich Teil eines Bundesmodells in Zusammenarbeit mit der Arbeiterwohlfahrt. Wir boten Sprachkurse für Kinder von Aussiedlern an. Das war eine tolle Sache, uns wurde viel mehr Geld zur Verfügung gestellt als beispielsweise Kommunalmodellen. Unsere Sprachkurse konnten wir dadurch erlebnispädagogisch aufbauen. Wir gingen Skifahren, Surfen und Segeln. Wir konfrontierten die Jugendlichen mit neuen Aufgaben und mit Verantwortung. Von außen kam deshalb oft Kritik auf. Es hieß wir seien zu liberal und ließen den Kindern zu viele Freiheiten. Zu jener Zeit waren wir kleine Pioniere – die klassischen Erzieher und Lehrer taten uns als Rebellen ab, doch wir wussten, dass wir Recht hatten.
»Wenn die uns kein Haus geben, dann machen wir den Sprachkurs eben im Karstadt!«
erzählmal.: Hatten Sie dadurch irgendwelche Probleme bei Ihrer Arbeit?
Hoeck: Ich hatte über all die Jahre meiner pädagogischen Arbeit in Bietigheim hinweg ein kritisches Verhältnis zur Stadtverwaltung. Sie legten mir wegen meines alternativen Ansatzes immer wieder Steine in den Weg. Der Oberbürgermeister klagte sogar einst gegen mich, um meine Amtsaushebung zu erwirken. Ein anderes Mal wollten sie uns die Räumlichkeiten für die Kurse wegnehmen. Also sagte ich: »Wenn die uns kein Haus geben, dann machen wir den Sprachkurs eben im Karstadt!«. Und zack – wir hatten unser Haus zurück. Sie wussten, dass ich meine Drohung wahrmachen würde [lacht].
erzählmal.: Wie kommt es, dass Sie trotz des recht konservativen Elternhauses so alternative Ansichten entwickelten?
Hoeck: Auf einer meiner Reisen durch die literarische Landschaft der Pädagogik stieß ich auf Janusz Korczak, einen wunderbaren polnischen Arzt und Pädagogen. Zu seiner Zeit war er ein ausgesprochen revolutionärer Pädagoge, einer der Wenigen, die das Wesen der Kinder tatsächlich verstanden. Sein Buch „Vom Recht des Kindes auf Achtung“ hat meine Einstellung geprägt wie kein anderes. Er nahm Kinder ernst, tat Spielräume auf und arbeitete konzeptionell. Er sagte zum Beispiel: »Kinder sind nicht dümmer als Erwachsene; sie haben nur weniger Erfahrung.«
»Ich bekam in meinem Arbeitsalltag oft mit wie die Klassenlehrer über die Aussiedler gejammert haben.«
erzählmal.: Was nahmen Sie daraus mit für Ihre eigenen Konzepte?
Hoeck: Ich lernte, mit den Kindern und Jugendlichen auf Basis von Versuch und Irrtum zu arbeiten. Den Erfolg mussten sie sich hart erarbeiten und sie fielen dabei oft genug auf den Hintern. Aber das Hinfallen – das war ein Spaß! Viele Projekte, die ich mit meinen Schützlingen anfing, scheiterten zunächst gnadenlos. Aber wir hatten immer große Freude daran und das Scheitern brachte uns näher zusammen. Bei allem Spaß war es mir aber immer wichtig, die Projekte fertigzustellen. Meine Botschaft an die Kinder sollte klar sein: »Hör‘ nicht auf, bring’s zu Ende!«.
Leider war diese Art der Erlebnispädagogik im normalen Schulalltag nicht vorgesehen. Ich bekam in meinem Arbeitsalltag oft mit wie die Klassenlehrer über die Aussiedler gejammert haben. Es fiel ihnen schwer einen Zugang zu finden und sie konnten sich nicht durchsetzen. Sie hatten ganz klar ein Autoritätsproblem mit ihren Schülern. Ich konnte den Autoritätsproblemen aus dem Weg gehen, indem ich oft mit Spezialisten aus einem bestimmten Bereich zusammenarbeitete. Mit einem Skateboarding-Titelträger zog ich beispielsweise ein kleines Skate-Projekt auf. So war da jemand, der wirklich Ahnung hatte, zu dem sie aufschauen konnten. Hätte ich das alleine gemacht, wären die Jugendlichen sicher nicht so kooperativ gewesen. Ich wollte ihnen immer das Gefühl geben, dass sie bei mir ernst genommen werden und dass diese Projekte etwas echtes waren.
»Russisch mit ihnen zu sprechen war wie eine Eintrittskarte in deren Psyche.«
erzählmal.: Überwiegen diese schönen Momente in Ihrer Erinnerung? Es gab sicher auch schwierige Situationen?
Hoeck: Ich erlebte auf keinen Fall nur schöne Dinge bei meiner Arbeit. Manche Situationen waren brenzlig, andere schon richtig gefährlich. Ich kam oft an meine Grenzen. Die für mich schlimmsten Szenen erlebte ich mit einigen Russland-Deutschen. Die Kinder und Jugendlichen aus der ehemaligen Sowjetunion waren extrem anfällig für Drogen. Von Null auf Heroin – so lässt sich die Geschichte vieler dieser Kinder betiteln. Sie hatten von allen Aussiedlern das stärkste Heimatgefühl und litten dementsprechend in der Rolle als Ausländer in einer fremden Umgebung am meisten. Russisch mit ihnen zu sprechen war wie eine Eintrittskarte in deren Psyche.
»Die kulturelle Prägung geht mit dem Grenzübertritt nicht einfach verloren.«
erzählmal.: Wie gingen Sie damit um?
Hoeck: Die Sprachbarriere konnte ich leider nie hinter mir lassen. Es war dumm von mir, dass ich nie Polnisch oder Russisch lernte. Bloß ein paar Schimpfwörter merkte ich mir mit der Zeit. Gówno war mir das liebste und wohl auch das meist gebrauchte. Was das bedeutet lasse ich aber besser aus.
Im Umgang mit den Russland-Deutschen musste ich einige Dinge lernen. Zum Beispiel, dass die kulturelle Prägung der Aussiedler stark und wichtig ist. Sie geht mit dem Grenzübertritt nicht einfach verloren. Zu jener Zeit schien den Sozialpädagogen, die mit diesen Kinder zu tun hatten, aber jedwede Sensibilität in der Wahrnehmung zu fehlen. Sie waren viel zu verschult und hatten so viele Theorien im Kopf, dass darin kein Platz mehr für die Realität der Kinder war.
Im Unterschied zu Ihnen erkannte ich, dass diese Kinder eine andere Wertskala haben als wir. Respekt und die Familie stehen sehr weit oben. Es war sinnvoller, die nahestehenden Freunde des Drogenabhängigen für dessen Sicherheit verantwortlich zu machen, als selbst dafür zu sorgen. So übertrug ich ihnen Verantwortung und stärkte den Zusammenhalt.
»Ich als Kind habe das getan, was er hätte tun sollen.«
erzählmal.: Woher kommt dieser unerschöpfliche Wille, für die Jugendlichen da zu sein?
Hoeck: Die Jugendarbeit ist eben einfach wichtig, das habe ich nie in Frage gestellt. Ein Stück weit ist das sicher auch die Konsequenz aus meiner eigenen Lebenserfahrung. Ich wuchs in einer schwierigen Zeit auf. Mein Vater wurde in den 40er-Jahren als Oppositioneller verhaftet, was bei meiner Mutter eine wiederkehrende Depression auslöste. Ich entwickelte einen ausgeprägten Sinn für die Bedürfnisse Anderer und ein starkes Empathiegefühl.
Ich erinnere mich noch, wie in der frühen Nachkriegszeit, als ich sechs oder sieben Jahre alt war, oft Bettler in unser Dorf kamen. Während mein Vater ihnen meist nicht die Türe öffnete, bin ich rausgegangen, habe sie mit in die Küche genommen und ihnen Essen gegeben. Ich als Kind habe das getan, was er hätte tun sollen. Diese Bereitschaft zur Hilfestellung zog sich durch mein ganzes Leben, besonders bei Kindern. Vergleicht man mich mit Trump, stehe ich ganz klar am anderen Ende [lacht]. Mir war es nie wichtig, selbst reich zu werden. Die Dankbarkeit, die man zurück bekommt, ist viel wertvoller. Noch heute stehe ich in engem Briefkontakt zu acht „meiner“ Kinder.