
»Ich war gefühllos, innerlich völlig kalt und abgestumpft.«
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- 27/02/2018
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- By : erzählmal.

Symbolbild
Helena Herbst*, 19 Jahre |
Hast du einen Gegenstand, der dir besonders viel bedeutet?
Ja, mein Traumfänger. Meine Mama hat ihn mir vor ein paar Jahren zu Weihnachten geschenkt. Träume haben für mich eine sehr große Bedeutung, weil ich einmal eine Traum-Therapie gemacht habe. Ich hatte früher Magersucht. An meinen Träumen konnten wir erkennen, ob ich psychisch Fortschritte oder Rückschritte mache. Als meine Mutter mir später den Traumfänger geschenkt hat, habe ich angefangen zu weinen, weil so viel dahinter steckt. Seit dem hängt er immer über meinem Bett. Er ist mir sehr wichtig.
»Ich nahm ab und merkte es nicht, weil es so schnell ging.«
Vermutlich trugen ganz viele Dinge dazu bei, dass ich die Essstörung entwickelte. Ich war immer sehr unzufrieden mit mir. Ich hatte Angst, dass ich etwas verpasse, wenn ich etwas nicht mitgemacht habe. Außerdem habe ich mich ständig mit anderen verglichen. Dadurch habe ich mir gewünscht, abzunehmen, aber das hat lange nicht funktioniert. Irgendwann veränderte ich mein Essverhalten dann radikal, indem ich das Abendessen wegließ. Da fing die Krankheit richtig an. Ich nahm ab und merkte es nicht, weil es so schnell ging. Ich schaute in den Spiegel, sah mich jeden Tag und merkte nicht, dass ich immer dünner wurde. Nur die Waage zeigte die Veränderung – ich freute mich immer sehr, wenn mein Gewicht weniger wurde. Als ich bei 50kg ankam, dachte ich, eine vier davor wäre schon cool. Dann stand da die vier, aber ich nahm immer weiter ab. Ich machte sehr viel Sport, fast jeden Tag war ich laufen. Auf Videos erkannte ich mich kaum wieder, so dünn war ich. Irgendwann habe ich mit meinen 1,62m nur noch 40kg gewogen. Das war der Tiefpunkt. Ich war gefühllos, innerlich völlig kalt und abgestumpft.
»Ich habe oft geträumt, dass ich verfolgt werde.«
Eines Tages kam dann mein Papa zu mir und meinte: Du musst was ändern. Wenn mein Vater zu mir kommt, weiß ich, etwas ist falsch. An dem Morgen weinte ich sehr viel. Dann suchten wir Hilfe. Ich hatte relativ schnell eine Psychologin, mit der ich mich sehr gut verstanden habe. Sie war diejenige, die meine Träume analysiert hat. Träume haben mich schon immer fasziniert, deswegen fand ich die Therapie auch sehr spannend. Ich habe oft geträumt, dass ich verfolgt werde. Dann habe ich immer probiert, Abkürzungen zu nehmen und bin zum Beispiel in Dornen gerannt. Das ist ein schlechtes Zeichen, weil ich keine Abkürzungen nehmen darf. Ich muss den normalen Weg gehen. Oft waren es Schlangen, denen ich in meinem Traum begegnet bin. Wenn ich am Ende der Verfolgung allerdings stehen geblieben bin und mich der Schlange gestellt habe, dann war der Traum richtig gut. Das ist ein gutes Zeichen, wenn ich mich meinen Ängsten stelle. Meine Therapeutin meinte, es muss sich erst etwas im Kopf verändern, bevor sich das Gewicht verändert. Also sprachen wir über viele Dinge, die mich beschäftigt haben. Irgendwann hat es dann ‚klick‘ gemacht. Ohne es zu merken nahm ich langsam wieder zu.
»Wenn man einmal magersüchtig war, ist die Krankheit ein Leben lang irgendwie da. Sie bleibt im Kopf.«
Im Nachhinein war ich ein Musterbeispiel für eine erfolgreiche „Heilung“: Nach nur zwei Jahren war ich aus der Spirale draußen. Aber wenn man einmal magersüchtig war, ist die Krankheit ein Leben lang irgendwie da. Sie bleibt im Kopf. Manchmal habe ich auch jetzt noch schlechte Träume. Dann realisiere ich, dass ich wieder aufpassen muss. Trotzdem war die Krankheit irgendwie auch gut. Sie hat mich in vielerlei Hinsicht zum Positiven verändert. Da, wo ich herkomme, gibt es jedes Jahr einen Altstadtlauf. Dort sind ein paar Frauen mitgelaufen, die ein bisschen kräftiger waren und trotzdem ein bauchfreies Shirt getragen haben. Früher habe ich mich für sie geschämt und nicht verstanden, warum sie sich so anziehen. Jetzt ziehe ich den Hut vor ihnen. Nach meiner Essstörung habe ich plötzlich Respekt. Ich finde es richtig cool, dass sie das so machen, weil sie sich in ihrem Körper wohlfühlen. Das hätte ich mich früher nicht getraut.
*Pseudonym