
»Erschreckend war für mich vor allem das Zuschließen der Zellen.«
- 10/03/2017
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- By : erzählmal.
Lulu Stahlberg ist 41 Jahre alt, verheiratet und hat zwei Söhne. Sie studierte Sport, Musik und Deutsch auf Lehramt und ist derzeit Grundschullehrerin in Tübingen. Seit vier Jahren arbeitet sie dreimal in der Woche zusätzlich im pädagogischen Dienst der Justizvollzugsanstalt Rottenburg.
erzählmal.: Wie kam es dazu, dass du angefangen hast in der JVA zu arbeiten?
Lulu: In einer Konferenz teilte unsere Schulleiterin mit, dass in der JVA in Rottenburg eine halbe Stelle im pädagogischen Dienst angeboten wird. Zuerst konnte ich mir gar nichts darunter vorstellen. Dann habe ich mir das angeschaut und bin bis heute aus den Mauern nicht mehr herausgekommen.
erzählmal.: Was genau ist dort dein Job?
Lulu: Ich gebe einen Deutschkurs für die Gefangenen der JVA, die wenig oder gar kein Deutsch sprechen können. Das war eine Herausforderung, denn ich hatte mit Deutsch als Fremdsprache noch nicht viel Erfahrung. Ich habe bei uns an der Schule zwei Jahre lang die Vorbereitungsklasse übernommen, also Kinder mit Migrationshintergrund unterrichtet, damit sie Deutsch lernen. Dadurch hatte ich mich schon in den Sprachbereich eingearbeitet. Aber Erwachsenenbildung ist dann doch etwas anderes. Jetzt bin ich seit vier Jahren in Rottenburg und mein Kurs findet immer von Oktober bis Juli statt. Dieses Schuljahr hatte ich 67 Anmeldungen für den Deutschkurs und konnte aber leider nur elf aufnehmen. Die anderen Gefangenen haben nun keinen Deutschkurs. Sie können nur sehr wenig Deutsch, haben mindestens noch eine Haftzeit von einem Jahr oder länger und können keine Ausbildung machen. Für sie bestelle ich dann Wörterbücher oder Lernmaterialien.
erzählmal.: Welche Strafen haben die Häftlinge dort?
Lulu: Die Justizvollzugsanstalt in Rottenburg ist ein Erwachsenengefängnis. Dort kommen auch Langzeithaftsträflinge – also ab 5 Jahren Haft aufwärts – hin. Ich habe auch zwei Männer in meinem Kurs, die lebenslänglich haben. Da sitzen auch Leute die Mord oder Totschlag begangen haben.
»Ich kann nicht sagen ‚Dich nehm‘ ich nicht, denn du hast ein Kind umgebracht.‘«
erzählmal.: Überlegst du dir, wer gefährlich sein könnte, wenn du die Auswahl für deinen Kurs triffst?
Lulu: Nein. Ich kann nicht sagen »Dich nehm‘ ich nicht, denn du hast ein Kind umgebracht.« Das geht nicht. Klar, am Anfang war es interessant und aufregend die Akten der Häftlinge zu lesen und zu sehen, warum sie dort sind. Inzwischen habe ich mir das aber abgewöhnt. Ich schaue mir immer nur die erste Maske an, in welcher die Haftzeit steht. Es verfälscht am Anfang total das Bild, wenn man die Tat kennt. Der erste Eindruck ist nicht immer alles und auch beim Arbeiten merke ich immer wieder: das sind Menschen wie du und ich. Wenn ich mit ihnen im Kurs arbeite, sind sie so dankbar, motiviert und ehrgeizig und einfach froh, den Deutschkurs zu haben, dass sie die Chance haben, dort Deutsch zu lernen. Das ist ein ganz anderes Arbeiten. Die Gefangenen kommen freiwillig, sie müssen es nicht machen. Erst wenn ich dann länger mit einem Gefangenen arbeite, interessiert mich die Tat irgendwann schon.
erzählmal.: Welche Parallelen gibt es zum Grundschulunterricht?
Lulu: Ich unterrichte oft mit Materialien aus der Grundschule. Es kommt super an, da sie visualisiert sind mit coolen Bildern – vor allem bei Gefangenen, die überhaupt keine Sprachkenntnisse haben oder sogar noch nie beschult wurden. Ich habe Schüler in meinem Kurs, die Geldwäsche gemacht, Geld gedruckt und dann studiert haben. Andere können weder schreiben, noch lesen. Das ist natürlich oft ein Spagat im Kurs. Für den Anfang ist es super mit Grundschuldbildern, Memorys und Dominos zu arbeiten.
erzählmal.: Inwiefern hat sich deine Sicht auf Straftäter verändert?
Lulu: Die Abwechslung ist super. Und auch wenn ich in der JVA irgendwann aufhöre, war es wirklich eine Bereicherung, hinter die Mauern schauen zu können und zu sehen, dass dort ein Leben ist. Die Menschen leben dort, lachen, essen, machen Sport und kommen irgendwann wieder raus. Ich treffe ab und zu auch Leute in Tübingen, die in der JVA waren, das ist unglaublich. Erst letzte Woche wieder auf der Neckarbrücke. Manche haben auch bloß kleinere Delikte begangen und kommen schnell wieder raus. Das sind nicht alles Mörder und Totschläger. Es gibt viele Leute die kleinere Diebstähle begangen haben, ihre Strafe nicht zahlen konnten und für vier, fünf Monate als Ersatzfreiheitsstrafe ins Gefängnis gehen müssen. Ich bin jetzt auch wieder zwei-, dreimal geblitzt worden und habe sogar einen Punkt bekommen. Klar, ich bezahle dann die Strafe, aber wenn das jemand nicht kann und sich mehrere Sachen aufsummieren… Ich denke, das könnte jedem passieren und so erkläre ich es auch immer meinen Kindern. Was ich interessant finde ist, dass die meisten Menschen über alles, was mit Straftaten zu tun hat – ob Bankraub, Vergewaltigung oderKörperverletzung – denken, die Leute, die so etwas tun, seien Abschaum. Sobald ich die Menschen im Gefängnis erlebe, sind sie aber nicht in diesem Zustand. Sie sind nicht alkoholisiert, in der Regel nicht auf Drogen, arbeiten in den Betrieben und verdienen Geld. Ihr Leben wird durch die JVA strukturiert. Sie sind dort ganz normal, freundlich, nett und arbeiten, machen ihr Ding. Und manchmal kann man es gar nicht glauben, dass sie Straftaten begangen haben.
»Am Anfang meinte mein Kollege zu mir: ‚Lulu, mach langsam. Du gibst den kleinen Finger und die wollen die ganze Hand.‘«
erzählmal.: Haben deiner Meinung nach die Straftäter ihre Strafe immer verdient?
Lulu: Dass diese zwei Männer aus meinem Kurs lebenslänglich haben, finde ich wirklich krass. Ich schaue mir die Akte an und denke: »Oh man, der hat jetzt mindestens noch 12 Jahre.« Das kann ich mir manchmal gar nicht vorstellen. Ich glaube nach 3-5 Monaten in Haft wird man ein bisschen verrückt. Man ist in einer Zelle eingeschlossen und nur mit Leuten zusammen, die Straftaten begangen haben. Ich glaube das ist manchmal wirklich schwer dort. Aber sie sind alle nicht ohne Grund dort. Ich würde kein Richter sein wollen.
erzählmal.: Du erlebst sicher viele schlimme Schicksale. Nimmst du das mit nach Hause?
Lulu: Ich muss sagen dadurch, dass ich zwei quirlige Jungs zu Hause habe, nehme ich das gar nicht mit nach Hause. Was mich eher manchmal belastet, ist, wenn zwischen den Kollegen etwas nicht so läuft, wie ich es mir vorstelle. Oft bin ich da vielleicht zu idealistisch oder war am Anfang zu naiv. Ich würde manchmal gerne viel mehr geben und viel mehr machen, aber ich merke, dass Leute, die länger dort arbeiten, schon ein bisschen ausgebrannt sind. Am Anfang meinte mein Kollege zu mir: »Lulu, mach langsam. Du gibst den kleinen Finger und die wollen die ganze Hand.« Man lernt Gefangene kennen und findet sie total nett. Manchmal kann man gar nicht verstehen warum sie dort sind. Wenn man sich dann um sie kümmert, ihnen ein extra Buch oder einen extra Stift besorgt, wollen sie immer mehr. Ich habe dann recht schnell kapiert, dass man sich abgrenzen muss, sonst wird man ausgenutzt. Im ersten Jahr bin ich nicht vor 19/20 Uhr heimgekommen. Inzwischen gehe ich um 17 oder 18 Uhr. Dann schaffe ich eben nicht alles. Dann liegen noch Anträge da und ich gehe heim zu meinen Kindern. Das musste ich erst lernen.
erzählmal.: Wie wichtig ist es dir, den Straftätern zu helfen, auf den richtigen Weg zu finden?
Lulu: Ich habe jetzt einen Gefangenen, der lebenslänglich bekommen hat, ein zweites Mal in meinen Kurs aufgenommen. Ich möchte ihm die Perspektive geben, nächstes Jahr den Hauptschulabschluss machen zu können. Er möchte danach eine Bäckerlehre in der JVA machen, die drei Jahre dauert. Das wäre total genial für ihn, wenn alles passt. Dann hat er auch eine richtige Perspektive. Es ist gut wenn er denken kann: »Mein Leben ist jetzt nicht total vorbei, wenn ich mich hier anstrenge und benehme, dann habe ich die Möglichkeit früher rauszukommen.«
Irgendwann kommen sowieso alle raus, wir haben ja keine Todesstrafe und das ist auch gut so. Deshalb denke ich, dass es sehr wichtig ist, die Leute zu stärken, ihnen Mut zu machen und zu zeigen, dass es danach noch weiter geht. Viele haben draußen keine Familie, keine Wohnung, keine Verwandten. Wie soll es für die weitergehen? Ich habe aus verschiedenen Jahren drei Leute in meinen Kursen gehabt, die jetzt schon wieder in der JVA sitzen. Das ist echt frustrierend. Vor allem wenn sie bei mir einen Abschluss mit der Note 1,5 machen. Ich glaube, dass es ziemlich schwierig ist, nach der Haftzeit wieder Fuß zu fassen, ein neues Leben anzufangen und da nicht mehr reinzurutschen.
»Erschreckend war für mich vor allem das Zuschließen der Zellen.«
erzählmal.: Wie hat dein Umfeld am Anfang auf diesen Job reagiert?
Lulu: Meine Familie fand das ganz toll. Aber im Freundeskreis oder im Kollegium merke ich, dass manche ganz erstaunt sind und den Job als eine Herausforderung betrachten, der ich mich stelle. Die können sich das gar nicht richtig vorstellen und fragen mich wie es mir damit geht. Dann sage ich, dass es mir gut geht und rate ihnen, dort eine Woche zu hospitieren. So eine Herausforderung ist das gar nicht. Erschreckend waren für mich die Zellen, weil sie wirklich klein sind, und vor allem das Zuschließen der Zellen. Das war am Anfang krass. Was auch gewöhnungsbedürftig ist, ist wenn man im Sommer zur Freizeit auf den Hof geht und einige Gefangene mit nacktem Oberkörper dastehen – wie im Film. Aber ich kann nur Positives über die Leute erzählen, zumindest über die, mit denen ich arbeite. Es geht zwar jeden Tag der Alarm an, es sind immer wieder irgendwo Schlägereien, aber ich wurde noch nie damit konfrontiert. Es werden auch immer wieder Drogen reingeschmuggelt, aber das kriege ich alles gar nicht so mit. Ich höre zwar den Alarm, aber ich habe keine Angst. Das hat mit meinem Deutschkurs nichts zu tun. Ich glaube, es macht mir vor allem so viel Spaß, weil ich dort ich selbst sein kann.
erzählmal.: Wie wichtig ist dir Abwechslung bei der Arbeit?
Lulu: Ich möchte es nicht mehr missen, dass ich diesen Teil der Gesellschaft kennenlernen durfte. Ich hätte nie gedacht, dass ich als Lehrerin die Möglichkeit habe, in der JVA zu arbeiten. Ich hätte auch nicht mein Leben lang eine erste oder zweite Klasse unterrichten wollen, das wird irgendwann langweilig. Ich hatte ein Kind bei mir in der zweiten Klasse, das an Leukämie erkrankt war – später zum Glück wieder gesund wurde. Dem habe ich neun Monate Hausunterricht gegeben und das hat mir sehr viel Spaß gemacht. Das ist auch wieder ein ganz anderes Arbeiten. Ich habe auch schon darüber nachgedacht, irgendwann vielleicht in einer Klinikschule zu arbeiten.
»Das sind Momente in denen man merkt, dass alles etwas gebracht hat.«
erzählmal.: Ist schon eine Freundschaft mit einem Gefangenen entstanden?
Lulu: Die Gefangenen würden schon gerne Freundschaften entstehen lassen oder Kontakte knüpfen, aber das geht nicht. Wenn man sich auf der Straße trifft, begrüßt man sich, trinkt vielleicht auch einen Kaffee, aber ich würde mich nicht mit jemandem verabreden. Das wäre einfach zu eng und zu viel. Ich kenne einen, der war letztes Jahr bei mir im Deutschkurs und kam dann recht schnell frei. Ihm habe ich geholfen bei dem »Projekt Chance« mitzumachen. Das ist ein Projekt, das die Übergangszeit der Gefangenen von der Haft zurück in die Freiheit betreut. Ich habe ihn da unterbringen können, weil ich die Initiatorin kenne und ihn empfohlen habe. Inzwischen hat er eine Wohnung und einen Job und das finde ich echt toll. Wenn ich ihn zufällig in der Stadt treffe, ist es einfach schön sowas zu hören. Das sind Momente in denen man merkt, dass alles etwas gebracht hat. Solche Geschichten machen meine Arbeit aus, wenn ich merke, dass es sich lohnt. Ich wünsche ihm nur, dass er nicht rückfällig wird.
»Wenn ich in Algerien großgeworden wäre, würde ich jetzt vielleicht auch fliehen und illegal arbeiten.«
erzählmal.: Was nimmst du für die Zukunft mit aus dieser Erfahrung?
Lulu: Es macht viel Spaß, das erleben und kennenlernen zu dürfen. Aber man merkt oft, dass man es schätzen kann, was für ein Leben man hier hat. Ich finde es krass, dass wir uns viel zu wenig Gedanken darüber machen. Wenn ich mir überlege, was wir hier an Medien haben, was wir für ein soziales Netz haben, was für ein Gesundheitssystem und Bildungsmöglichkeiten. Ich bin in Tübingen groß geworden, ich kenne das nicht anders. Aber man lernt dann Leute kennen, zum Beispiel Flüchtlinge, die versuchen irgendwie für ihre Familie Geld zu verdienen und irgendwie zu leben, weil in ihrem Land alles so schwierig ist. Wenn ich beispielsweise in Algerien großgeworden wäre, würde ich jetzt vielleicht auch fliehen und illegal arbeiten. Das ist echt schwierig. Und deswegen bin ich auch der Meinung, dass alle eine neue Chance verdient haben. Egal welche Straftat sie begangen haben, sie bekommen hier eine Chance und müssen dann entscheiden, ob sie diese nutzen, oder nicht.