
»Nach Silber in London war klar, was ich in Rio holen musste.«
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- 15/02/2017
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- By : erzählmal.
Steffen Warias, 32 Jahre, kommt aus Derendingen und ist paralympischer Gold- und Silbermedaillensieger. Die Einschränkung an seinen Beinen hielt ihn jahrelang nicht davon ab, im Amateur-Radsport Rennen zu bestreiten – und zu gewinnen. Erst mit 24 Jahren wechselte er in die Paracycling-Szene. Seitdem ist er aus dem deutschen Spitzensport nicht mehr wegzudenken.
erzählmal.: Wie kann man sich deine Disziplin – Paracycling – im Vergleich zu anderen Radsportdisziplinen vorstellen ?
Steffen Warias: Im Paracycling gibt es, genau wie im normalen Radsport, das Straßenrennen und das Zeitrennen. Die Disziplinen sind also die gleichen wie im normalen Radsport. Im Paracycling gibt es zusätzlich zu den üblichen Leistungsklassen auch verschiedene Behinderungsklassen. Da wird dann dementsprechend kategorisiert. Die Grundkategorie sind normale Zweiräder, das ist meine Kategorie. Dann gibt’s Handbikes für Querschnittsgelähmte, Tandems für Blinde, und Dreiräder für Leute mit motorischen, spastischen Störungen. Die Zweiradklasse ist nochmal in 5 verschiedene Klassen unterteilt, je nach Schwere der Einschränkung, um die Leistungen vergleichbar zu machen.
erzählmal.: In welche Klasse gehört deine Behinderung?
Steffen: Meine Klasse ist die C3, ich bin also in der Mitte. Ich habe eine Einschränkung an beiden Beinen, ich wurde mit Klumpfüßen geboren. Als ich ein Kind war, wurde das mehrmals operativ behandelt und das Resultat daraus ist, dass meine Wadenmuskulatur eingeschränkt ist, weil ich das Sprunggelenk nicht bewegen kann. Rechts ist es komplett steif, links kann ich es noch ein wenig bewegen.
»Mein Handicap ist mir auf dem Rad eigentlich nicht so omnipräsent.«
erzählmal.: Wie kamst du zum professionellen Paracycling?
Steffen: Ursprünglich komme ich aus dem Amateursport. Mit 14 oder 15 bin ich ein paar Mountainbike-Rennen gefahren, einfach aus Spaß. Mit 18 habe ich mir mein erstes Rennrad gekauft. Damit bin ich in Wendelsheim bei einem Straßenrennen mitgefahren und direkt Zweiter geworden. Ins Paracycling bin ich erst mit 24 eingestiegen, das war 2009. Ich bin dann auch wirklich schnell im Profisport gelandet. Ein Bekannter von mir brachte mich darauf. Er hat auch ein steifes Sprunggelenk und fuhr zu der Zeit für die Nationalmannschaft. Ein Jahr später habe ich dann das erste Mal Kontakt zu den Leuten um die Nationalmannschaft aufgenommen. 2010 war ich bei meiner ersten Weltmeisterschaft dabei. Dort bin ich als Neuling sogar direkt Weltmeister geworden. 2012 durfte ich dann schon in London bei den Paralympics teilnehmen und habe die Silbermedaille im Straßenrennen gewonnen.
erzählmal.: Wie kommt es, dass du trotz deiner Einschränkung so intensiv in den Sport eingestiegen bist?
Steffen: Mein Handicap ist mir auf dem Rad eigentlich nicht so omnipräsent. Im Paracycling schneide ich im Vergleich zu anderen Sportlern eben auch meistens gut ab. Im Amateursport ist das etwas anderes. Da merke ich schon, dass die Sportler ohne Einschränkung einfach viel mehr Power in ihren Waden tragen als ich. Ob ich ohne mein Handicap jemals Vollprofi geworden und bei der Tour de France dabei gewesen wäre, kann ich nicht sagen. Aber ich versuche eben die Muskulatur, die ich zur Verfügung habe, zu 100% auszunutzen.
erzählmal.: Wie ist deine Beziehung zu nicht-eingeschränkten Sportlern?
Steffen: Wenn ich bei Amateurrennen gegen Sportler antrete, die kein Handicap haben, bekomme ich hinterher oft beeindruckte Reaktionen. Dafür, dass ich trotzdem attackiere und gut abschneide oder sogar gewinne. Letztlich muss man aber bedenken, dass ich vermutlich mehr trainiere als die Amateursportler. In einen direkten Vergleich mit nicht-eingeschränkten Profisportlern komme ich nicht.
erzählmal.: Welchen Aufwand musst du erbringen, um im Profisport mitzuhalten?
Steffen: Ich trainiere jeden Tag, fahre auch mit dem Rad zur Arbeit. Ich habe bei Basel in der Schweiz eine 80%-Stelle in einem Pharmaunternehmen. Mein Arbeitgeber stellt mich frei für Trainingslager und Rennen, in Kooperation mit der Sporthilfe. Anders wäre es für mich auch nicht möglich, den Trainingsaufwand zu stemmen. In den Trainingslagern während der Qualifikationszeit für Olympia bin ich locker täglich sechs bis sieben Stunden mit dem Rad auf der Straße.
»Es gibt verschiedene taktische Tricks, die manchmal unschön sind. Irgendwann ist man sich selbst eben immer der Nächste.«
erzählmal.: Wie ist das Feeling in so einem Trainingslager? Ist der Konkurrenzgedanke immer präsent?
Steffen: Ich habe eigentlich zu all meinen direkten Konkurrenten ein freundschaftliches Verhältnis. Konkurrenz belebt eben das Geschäft. Es steigert die eigene Leistung, wenn man schon in der eigenen Mannschaft Konkurrenz hat. Im Training ist die Stimmung auch alles andere als feindselig, man nimmt sich gegenseitig mehr als Trainingspartner wahr, denn als Rivalen. Im Rennen ist es unterschiedlich. Auf internationalen Rennen bilden sich zum Beispiel oft Gruppen und wir versuchen im Team zusammenzubleiben, zumindest bis kurz vor dem Ziel. Das macht taktisch Sinn, um »sich gegenseitig nicht weh zu tun«, wie wir sagen und um Windverhältnisse optimal zu nutzen. Bei nationalen Rennen dagegen sind wir uns gegenseitig wohl die größten Rivalen, da ist der Konkurrenz-Gedanke am größten.
erzählmal.: Wie äußert sich der Konkurrenzkampf im Rennen?
Steffen: Es gibt verschiedene taktische Tricks, die manchmal unschön sind. Irgendwann ist man sich selbst eben immer der Nächste. In Rio beim Straßenrennen hatte sich zum Beispiel schon in der ersten Runde von dreien (3 x 23km) eine Gruppe an der Spitze gebildet. Wir waren die sieben Favoriten und waren uns ziemlich schnell einig, so lange wie möglich zusammen zu fahren. Das blieb auch so bis circa zwei Kilometer vor dem Ziel. Dann fingen die taktischen Spielchen an. Keiner will ganz vorne fahren, sondern lieber im Windschatten. Ich selbst fuhr auch nicht voraus, sondern an zweiter Position.
»Nach Silber in London war klar, was ich in Rio holen musste.«
erzählmal.: Wie hast du die Paralympischen Spiele in Rio wahrgenommen?
Steffen: Dadurch, dass es meine zweiten paralympischen Spiele waren, wusste ich schon, was mich erwarten würde. In London war ich viel nervöser. In Rio habe ich zunächst wirklich versucht, die Stimmung und das Flair zu genießen. Die Aufregung kommt dann von ganz alleine. Ich weiß noch, wie ich mir am Tag des Rennens ständig sagte, dass es eigentlich schon eine tolle Sache sei, überhaupt dabei zu sein. Das Olympische Dorf, der Kontakt zwischen den Nationen und Sportarten, die Kulisse und die ganze Atmosphäre waren eine unglaublich tolle Erfahrung. Der Sieg sollte nicht mehr und nicht weniger sein als die Kirsche auf dem Sahnehäubchen. Aber vielleicht habe ich mir das nur eingeredet, um mir den Druck zu nehmen… Denn nach Silber in London war klar, was ich in Rio holen musste. Das war wohl der Satz, den ich vor den Paralympics in Rio am häufigsten zu hören bekam.
erzählmal.: Und wie war der Siegesmoment? Hattest du Freunde und Familie dabei?
Steffen: Von der Familie war in Rio niemand dabei. Dem Siegesmoment hat das aber keinen großen Abbruch getan, weil ich auch in der Mannschaft mit einigen sehr gut befreundet bin. Ich hatte viele Leute um mich herum, die mir wichtig sind und die mich ordentlich gefeiert haben. In gewisser Weise sind diese Leute auch viel eher in der Lage, diesen Sieg und dessen Bedeutung wirklich zu begreifen. Sie wissen von sich selbst, wie viel man investieren muss und wie groß der Traum vom Olympia-Gold ist.
Der Morgen danach war ziemlich hart. Das Rennen war am Ende der paralympischen Spiele, weshalb wir den Sieg umso ausgelassener feiern konnten. Gold in Rio war für mich der absolute Höhepunkt meiner Karriere. Das zu begreifen hat aber schon eine Weile gedauert. Der Abend des Sieges ist wie ein Höhenflug und am Morgen danach fühlt sich alles zunächst noch an wie ein Traum. Auch die Heimkehr war total überwältigend. Als ich sah, wie viele Leute das hier verfolgt haben, war ich total erstaunt. Auch, wenn ich während der Spiele über Facebook viel mitbekam, war mir dennoch nicht bewusst, wie groß das Interesse war.
»Aus meiner Perspektive ist es nötig, dass die Paralympischen Spiele mehr Aufmerksamkeit bekommen.«
erzählmal.: Wie bewertest du den Unterschied von den Paralympischen Spielen zu Olympia?
Steffen: Das ganze Niveau bei den Paralympics und auch generell im paralympischen Sport ist seit den Spielen in Peking definitiv angestiegen, die Strukturen sind professioneller geworden, die nationalen Verbände investieren viel mehr. Auch die Qualifikationsprozesse durch nationale und internationale Rennen wurden professionalisiert.
Im direkten Vergleich gibt es aber auch weiterhin den Unterschied, dass im paralympischen Sport viel weniger Sportler profimäßig unterwegs sind. Fast alle von uns haben noch einen anderen Beruf, der das täglich Brot finanziert. Das hat Vor- und Nachteile. Einerseits bleibt mir natürlich viel weniger Zeit für mein Training, andererseits habe ich so ein stabiles zweites Standbein. Denn selbst im olympischen Sport gibt es nur wenig Sportler, die während ihrer aktiven Zeit im Profibereich so viel Geld machen, dass es für das restliche Leben reicht. Aus meiner Perspektive ist es nötig, dass die Paralympischen Spiele mehr Aufmerksamkeit bekommen. Vielleicht irgendwann ja sogar so viel wie Olympia.
»Man muss einsehen, dass von einem schlechten Rennen nicht die Welt untergeht.«
erzählmal.: Wie hoch ist dein persönliches Frustrationpotential im Radsport?
Steffen: Ich kam zwar noch nie an einen Punkt, an dem ich das Radfahren aufgeben wollte, aber 2011 war für mich motivationstechnisch z.B. ein sehr hartes Jahr. Es war das Qualifikationsjahr für die paralympischen Spiele in London. Bei der WM im Zeitfahren war ich dann leider sehr schlecht und im Straßenrennen bin ich gestürzt, sodass ich mich auch da nicht platzieren konnte. Das war eigentlich das direkte Qualifikationskriterium für London. Dadurch stand ich das restliche Jahr enorm unter Druck, mich bei anderen Rennen über sehr gute Ergebnisse noch zu qualifizieren. Letztlich hat es natürlich geklappt, war aber ein bisschen zu nervenaufreibend für meinen Geschmack.
Im Verlauf meiner Karriere habe ich gelernt, mit Frustrationen locker umzugehen. Man muss erstmal Abstand zu dem Ereignis gewinnen und dann einsehen, dass von einem schlechten Rennen nicht die Welt untergeht. Die Zahlen und Fakten, die man schon im Training schreibt, sind es, die einem das nötige Selbstbewusstsein geben. Und darauf muss man sich dann eben verlassen. Auf alles andere hat man ohnehin keinen Einfluss. Auch für das Ziel Tokyo 2020 werde ich mir eine entspannte Haltung bewahren. Dadurch, dass ich mir meinen persönlichen Traum schon mal erfüllt habe, kann ich ganz entspannt in das Rennen starten. Sofern ich denn so weit komme.
erzählmal.: Du willst also ein drittes Mal an den Paralympischen Spielen teilnehmen?
Steffen: Für die Paralympics in Tokyo wünsche ich mir auf jeden Fall wieder eine Teilnahme. Ob es das dritte Mal in Folge für eine Medaille reichen kann, wird sich erst in der konkreten Olympia-Vorbereitung zeigen. Zurzeit bin ich nicht im intensiven Training und direkt nach Olympia habe ich auch gemerkt, wie die Motivation eher nachließ und ich zunächst einmal meinen Sieg genießen wollte. Ich werde aber auf jeden Fall für die kommenden Saisons wieder voll ins Training starten.